Immer wieder taucht der Begriff „unerzogen“ auf meinem Blog auf. Höchste Zeit, dass ich dem Thema einen eigenen Artikel widme. Ich finde, es herrschen noch zu viele Missverständnisse über unerzogen. Daher möchte ich heute in einem ersten Blogbeitrag darüber schreiben, was unerzogen für mich bedeutet – und was nicht.
Unerzogen ist eine Haltung und keine Erziehungsmethode
Das ist eigentlich auch schon das wichtigste: Unerzogen ist weder eine Methode, noch ein Erziehungsstil. Es gibt daher keine Vorgaben à la „wenn du unerzogen leben möchtest, musst du dies oder jenes tun“. Es gibt dabei keine Strategien und keine Regeln. Weil unerzogen eben nur eines festlegt, nämlich GAR NICHT zu erziehen.
Gar nicht erziehen. Das ist natürlich für die meisten Menschen eine krasse Ansage. Und dann kommen schnell von jeder Seite Einwände wie: „Aber ein Kind braucht doch gewisse Regeln und Grenzen. Ich erziehe es ja trotzdem liebevoll.“ Oder: „Also ist unerzogen das Gleiche wie laissez-faire?“ Nein.
Unerzogen ist ein schwer greifbarer und vielleicht auch etwas unglücklich gewählter Begriff. Die Vorstellung von Erziehung ist in unseren Köpfen so fest verankert. Dass es auch anders gehen kann, ist für die meisten Eltern im ersten Moment schwer nachzuvollziehen.
Aber ich will versuchen, dir einen Einblick in die Welt und das Denken von unerzogen zu geben.
Was bedeutet Erziehung aus der Sicht von unerzogen?
Unerzogen bedeutet also Verzicht auf Erziehung.
Doch von welcher Form von Erziehung spreche ich hier? Ich spreche von Erziehung, als bewusstes Formen des Kindes durch einen Erwachsenen, nach dessen Vorstellungen. Der Erwachsene hat also ein bestimmtes Ziel im Kopf, zum Beispiel das Kind „gesellschaftstauglich zu machen“ und dort möchte er es dann „hin-er-ziehen“, indem er verschiedene Methoden anwendet. Er bringt dem Kind zum Beispiel bei, „Danke“ oder „Entschuldigung“ zu sagen, damit es sich höflich ausdrücken kann.
Extremer ausgedrückt bedeutet Erziehung, das Kind bewusst zu beeinflussen – sprich, manipulieren. Da die meisten von uns ja selbst als Kind erzogen wurden, ist uns diese Art von Machtausübung häufig selbst gar nicht bewusst. Dennoch ist genau das gemeint, wenn man im unerzogen-Kontext so deutliche Aussagen hört wie: „Erziehung ist Gewalt.“
Um das Beispiel von eben noch einmal aufzugreifen: Es ist natürlich nichts schlimmes dabei, wenn deine Kinder „Danke“ und „Entschuldigung“ sagen. Im Gegenteil. Aber es geht um die Art und Weise, wie du ihnen beibringst, dies zu tun. Zwingst du sie beispielsweise in bestimmten Situationen diese Wort auszusprechen? Dann ist das ganz klar Erziehung.
Du kannst ihnen aber alternativ ganz einfach vorleben, wie du diese Begriffe im Alltag verwendest und ihnen erklären, warum du das tust. Davon abgesehen, können Kinder sowieso erst ab ca. vier Jahren ein Empathievermögen entwickeln, durch das sie überhaupt erst einmal verstehen lernen, was es heißt, sich zu entschuldigen. Alles was vorher ausgesprochen wird, sind leere Floskeln „weil Mama es so will“.
Einen guten Artikel zu diesem Thema findet ihr übrigens auf dem Blog Gewünschtestes Wunschkind: Warum man Kinder nicht dazu anhalten muss, sich zu entschuldigen.
Was unerzogen von Laissez-faire unterscheidet
Laissez-faire wird der Erziehungsstil genannt, bei dem die Eltern ihre Kinder einfach sich selbst überlassen. Sie übertragen somit all ihre Verantwortung auf die Kinder, bauen keine Beziehung zu ihnen auf und im schlimmsten Fall werden sie vernachlässigt.
Bei Unerzogen dagegen, ist die Basis von allem: Beziehung. Und zwar eine respektvolle, achtsame Beziehung. Die persönlichen Grenzen jedes einzelnen werden authentisch kommuniziert und gewahrt. Außerdem bleibt die Verantwortung immer bei den Eltern, die das Kind begleiten.
Was bedeutet unerzogen leben noch – und was nicht?
Die Erziehung aus unserer eigenen Kindheit steckt tief in uns drin. Deshalb ist es auch so schwierig, sie zu enttarnen und wegzulassen. Jedes „das macht man doch nicht“ ist so fest in uns verankert, dass es manchmal unmöglich scheint, es zu ignorieren. Auch unser Bauchgefühl ist geprägt durch die Erfahrungen, die wir (vor allem) in der Kindheit gemacht haben.
Unerzogen leben bedeutet daher in ständiger Selbstreflexion zu bleiben und die eigenen Glaubenssätze, Vorurteile und Erwartungen aufzuspüren. Es bedeutet authentisches Vorleben und Lösungen finden, die „outside the box“-Denken erfordern.
Unerzogen leben bedeutet unseren Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, ihnen Kompetenz zuzusprechen und Vertrauen zu schenken.
Unerzogen leben bedeutet jedoch nicht den Kindern alle Wünsche zu erfüllen und ihnen alles zu erlauben. Stattdessen wird hinterfragt, welche Bedürfnisse hinter den Wünschen stecken.
Es bedeutet auch nicht, dass die Kinder keine Grenzen kennen, mit Entscheidungen alleine gelassen werden oder dass die Bedürfnisse der Eltern hinten runter fallen.
10 Missverständnisse über unerzogen und das Leben ohne Erziehung klärt Aida in ihrem tollen Blogartikel auf.
Abschließend würde ich sagen, unerzogen leben bedeutet vor allem eines: Sich selbst auf dem ständigen Lernweg zu sehen.
Ich hoffe es ist mir gelungen, dir einen Einblick in die unerzogen-Haltung zu geben. Ich könnte noch viel mehr darüber schreiben und vermutlich werde ich das in nächster Zeit auch tun. Der Artikel dient lediglich als Einstieg und Begriffserklärung.
Hast du dich selbst schon mit unerzogen beschäftigt? Wie sind deine Erfahrungen und Eindrücke? Ich freue mich, in den Kommentaren darüber zu lesen!
Danke für diese Zusammenfassung! 🙂 Besonders Deine abschließende Bemerkung gefällt mir gut. Ich schaffe es (noch) nicht, komplett unerzogen zu leben, aber befinde mich auch in einem ständigen Lernprozess…
Sehr gerne. Wir leben auch noch lange nicht komplett unerzogen. Wobei ja die Frage ist, woran man es fest macht, dass es „komplett“ ist. Gibt es das überhaupt? Das wichtige ist doch, dass wir auf dem Weg sind und ständig reflektieren, uns damit auseinandersetzen und lernen! 🙂
Viele Grüße
Sophie